liebe leserin, lieber leser

Nachdem ich mich beim letzten Mal noch hinter zwei äusserst kompetenten und erfahrenen Ghost-Writerinnen versteckt hatte, stürze ich mich nun selbst ins Abenteuer.

Eines der prägendsten Themen in den ersten vier Monaten des Jahres 2023 war natürlich die Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Systeme wie Chat GPT oder Bart waren in aller Munde und natürlich konnte auch ich der Verlockung nicht widerstehen und habe mich auf dieses Terrain gewagt. Da bin ich bei weitem nicht alleine, denn laut dem Eightfold KI Report planen 92 % der HR Direktoren, die Nutzung von künstlicher Intelligenz in den nächsten Monaten zu steigern. Natürlich sind da zuerst einfachere Themen wie Daten-Management oder Onboarding im Fokus. In einem späteren Schritt erwartet man, dass die KI dann auch komplexere Themen bearbeiten kann. Das kann zum Beispiel das Beantworten von HR spezifischen Fragen sein oder auch die Kommunikation von Lohnbestandteilen.

Der Elefant im Raum ist und bleibt jedoch die Frage:

Kann die Künstliche Intelligenz Vorstellungsgespräche in Zukunft teilweise oder gänzlich ersetzen? Kann dadurch der Rekrutierungsprozess vollautomatisch gestaltet werden?

Diesbezüglich hatte ich dieses Jahr mehrere spannende Gespräche. Denn verschiedene Firmen setzen in ihrem Rekrutierungsprozess bereits auf Künstliche Intelligenz. Die KI ist dort das erste Quality-Gate, um der Flut an Bewerbungen Herr zu werden. Diese erste Instanz muss zuerst überwunden werden, ohne dass der Lebenslauf von einem Menschen begutachtet wird. Erst wenn die KI die Genehmigung gibt, darf man im Prozess weitergehen.

Dies wirft natürlich Fragen auf. Verbessert man dadurch wirklich die Selektion der Kandidat*innen und welchen Einfluss hat das auf die “Candidate Experience”? Die Antworten darauf wissen wir wohl erst in ein paar Jahren. Einen Vergleich möchte ich jedoch dennoch ziehen. Denn die Diskussion hat mich an ein anderes, ähnliches Thema erinnert - den Bewerbungsprozess von internationalen Universitäten. Oft müssen dabei international anerkannte und standardisierte Tests absolviert werden und nur wenn man ein gewisses Niveau erreicht, wird man berücksichtigt. Zu meiner Zeit hat dies zu einer sehr hohen Anzahl an asiatischen Studenten geführt. Als ich meine Kommilitoninnen dann besser kennengelernt hatte, wurde mir langsam auch bewusst, was der Grund dafür sein könnte. In einigen dieser Länder (übrigens auch den USA) sind standardisierte Tests ein wichtiger Bestandteil des Schulsystems. Dort gibt es gar Vorbereitungskurse auf die wichtigen Tests, sie lernten also die Herangehensweise, diese Tests möglichst gut zu bestehen. Einige Jahre später hat dies ein guter Bekannter dann auch benannt: “Du sagst mir, wie der Test funktioniert und ich werde ihn bestehen - dafür wurde ich ausgebildet.”

Nun, was hat dies mit der KI beim automatischen Bewerbungsprozess zu tun und was unterscheidet den Algorithmus der KI von den standardisierten Tests?

Bei beiden scheint mir ein Vorgang absolviert werden zu müssen, den man im Vergleich zu einer Vergleichsgruppe besser durchlaufen muss. Auf der einen Seite sind es standardisierte Testfragen und auf der anderen wird man durch einen vordefinierten Algorithmus evaluiert. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Algorithmus in Zukunft die standardisierten Tests ersetzen wird (da lasse ich mich gerne belehren…). Wenn die standardisierten Tests bei Universitäten nun einen so hohen Stellenwert erreicht haben, dass es Spezialkurse gibt, um sie bestmöglich zu bestehen, scheint es mir auch möglich, dass dies in Zukunft auch für KI basierte Bewerbungssysteme möglich ist. Erzielt die Vorselektion durch KI dann noch den gewünschten Effekt?

Insbesondere in unserem Umfeld, in dem Talente knapp sind, bin ich mir sicher, dass man hinter den CV und auf den Menschen  schauen sollte, anstatt durch einen Algorithmus technische Fakten abzufragen. Denn das Risiko, dass wahre Talente durch die Maschen fallen, ist gross. Wieder auf meine persönlichen Erfahrungen zurückgreifend: Die nominell Erfolgreichsten im Berufsleben aus meinem Umfeld sind nicht die mit den besten Noten in der Schule oder den besten standardisierten Testresultaten. Es sind interessanterweise die Querschläger, die oft eine sehr hohe Sozialkompetenz aufweisen und etwas “beissen” mussten im Leben. Hätten sie es durch den Algorithmus geschafft? Das bezweifle ich.

Insofern bin ich überzeugt, dass vielen Firmen durch den rigorosen Einsatz von KI, Talente entgehen werden. Die grosse Frage jedoch ist, wie lange noch bis die KI auch diese Lücke schliesst…?

Bis bald

Bernhard